Virtuelles Leben in Europas größtem Zukunftslabor
Realität und virtuelle Welten verbinden – das gelingt im Elbedome auf einzigartige Weise. Europas größtes 3D-Mixed-Reality-Labor steht in Magdeburg und ermöglicht, die Zukunft zu sehen und zu gestalten, bevor sie Wirklichkeit wird.
Die überdimensionale Halbkugel erstrahlt in kaltem Lila. Überall sind Zahlen zu sehen - von 1 bis 25. Sie markieren Stellen, auf die riesige Projektoren, die an der etwa sechs Meter hohen Decke über uns hängen, ihre Bilder werfen. Alles gesteuert über Tablets oder Computer. Etwas abseits steht ein Tisch, auf dem der große Computer-Bildschirm wie ein schwarzes Loch wirkt. Steffen Masik (40) huscht mit schnellen Fingern über sein Tablet, tippt einige Befehle ein und alles verändert sich:
An den Wänden und auf dem Boden tauchen verschwommene, zweidimensionale, riesige Bilder auf, die nur schwer zu identifizieren sind. Erst der Blick durch eine schwarze Brille, mit kleinen Antennen an den Seiten ändert alles: Zu sehen ist ein alter U-Bahnhof. Die Wände, einst weiß, sind voll mit Schmutz, auf die Plattform tropft Wasser. Links steht eine über hundert Jahre alte Straßenbahn, die auf die Abfahrt wartet. Wer den Waggon betritt, sieht alte Holzbänke, die zum Sitzen einladen. Ein Blick durch die verschmutzte Fahrerscheibe weist in einen unendlichen Tunnel. Plötzlich dreht und bewegt sich alles. Männer in grünen Overalls arbeiten in einer riesigen Fabrikhalle. Rechts werden gläserne Kabinen montiert, auf der linken Seite wird gelötet. Wie aus dem Nichts taucht auf einer leeren Arbeitsfläche ein hypermoderner, grün-gelber Traktor mit geöffneter Motorhaube auf, der scheinbar genau hier stehen muss.
Dann flackern die Bilder, sie verschwinden und ein Einfamilienhaus im Bauhausstil erscheint: großzügig geschnittenes Wohnzimmer. Funktioneller Holztisch mit passenden Stühlen. Blumenmuster-Vase. Hängeleuchte. Sessel. Eine schmale Tür führt zu einem schlichten Bad mit Dusche, Waschbecken und Toilette. Die Treppe weist ins Obergeschoss. Im Hof klatscht Regen aufs Pflaster, Efeu wiegt sich im Wind. Alles wirkt so echt und natürlich. Und doch ist alles nur Illusion. Die Straßenbahn fährt nicht. Der Traktor kann nicht starten. Und wer sich im Spiegel im Bad anschauen möchte, sieht sein Gesicht nicht. Auch Efeu und Regen sind nur Illusion. Also alles nur Fake? Nein!
Das alles gibt es im "Elbedome", Europas größtem 3D-Mixed-Reality-Labor! Hier, unweit der Elbe, werden Dinge und Situationen dargestellt, die in der realen Welt mitentscheidend für die Lösung wichtiger Zukunftsfragen sein können. Aber auch für den Erhalt von Vergangenem. Zum Beispiel der Magdeburger Dom oder die alte Straßenbahn. Sie sind digitalisiertes kulturelles Erbe.
Der Elbedome gehört zum Fraunhofer-Institut für Fabrikbetrieb und -automatisierung IFF.
2006 wurde dieses Zukunftslabor im Magdeburger Wissenschaftshafen gebaut und nach aufwendiger Modernisierung für 2,5 Millionen Euro im Mai 2018 wiedereröffnet.
„Das technisch hochkomplexe 3D-Labor in Form einer Halbkugel hat einen Durchmesser von 16 Metern und eine Höhe von über vier Metern“, erklärt Geschäftsstellenleiter Steffen Masik.
Im Elbedome werden Panorama- und Bodenprojektionen auf einer Fläche von 450 Quadratmetern durchgeführt. Das entspricht in etwa einem normalen Einfamilienhaus-Grundstück. Möglich machen dies 25 Stereo-Projektoren, wovon neun für die Panoramabilder und 16 für die Bodenprojektion eingesetzt werden. Ihre effektive Gesamtauflösung ist größer als 60 Megapixel.
„Bei uns können virtuelle Inhalte auf der 360-Grad-Panorama- und Bodenfläche nicht nur hochauflösend projiziert, sondern mit Hilfe von 3D-Brillen holografisch dargestellt werden“, erklärt Steffen Masik, der nach dem Abitur in Magdeburg Computervisualistik studierte und danach ins Fraunhofer-Institut wechselte.
Seit Januar 2016 leitet er die Geschicke des Labors und arbeitet intensiv an einer engeren Verzahnung von Wissenschaft und Wirtschaft auf dem Weg in die digitale Zukunft.
Aber, was bedeutet das alles für die reale Welt, in der wir leben?
Vereinfacht gesagt: Durch die überdimensionalen Ausmaße ist der „Elbedome“ besonders für die virtuell-interaktive Darstellung großer Objekte geeignet. Zum Beispiel Fabrikanlagen, Städte, Einfamilienhäuser, Bahnhöfe oder eben auch High-Tech-Traktoren.
Längst nicht alles: „Es ist auch möglich mit Hologrammen zu interagieren.“
Kaum hat Steffen Masik das gesagt, lässt er ein Roboter-Hologramm auf dem Boden des Elbedomes erscheinen – es scheint ein freundlicher Kerl im weißen Raumanzug mit dunklen Augen zu sein. Aber noch liegt er regungslos auf dem Boden.
Stefan Masik nimmt die Brille und streift sich einen schwarzen Sensorhandschuh über seine rechte Hand, der an ein Utensil für Golfspieler erinnert. Masik steht regungslos in dem riesigen Oval. Direkt neben ihm der Roboter.
Langsam bewegt er sich auf den regungslosen Kerl zu. Neben der Figur schwebt eine kleine weiße Kugel im Raum.
„Mit ihr kann ich die Maschine zum Leben erwecken“, erklärt er – und zieht den Ball nach unten. Kaum zu glauben, der Hologramm-Arm folgt der Bewegung. Steffen Masik tritt näher an seinen imaginären Freund heran und zuckt einmal kurz mit der Hand. Faszinierend, der Roboter blickt nach unten, folgt allen weiteren Bewegungen, die der Mensch nun vorgibt. Sogar die großen, schwarzen Augen scheinen Steffen Masik zu folgen.
Nach einigen Minuten intensiven Robot-Bewegungstrainings verabschiedet sich der Elbedome-Chef mit einem Händeschütteln von seinem Kumpel. Steffen Masik zieht den Sensorhandschuh aus, nimmt die Brille ab und löscht den so menschlich wirkenden Roboter.
Was alles wie Spiel wirkt, hat aber tatsächlich seriöse Hintergründe. „Mit unserem oder anderen virtuellen Robotern können zum Beispiel Entwickler von Fabrikhallen im Elbedome testen, wie sie ihre Roboter optimal in Produktions- oder Arbeitsabläufen einsetzen können.
Genau das ist ein Ziel des Forschungslabors: „Wissenschaft und Wirtschaft können im Elbedome an den Forschungsfragen der Zukunft arbeiten, besonders an der Entwicklung neuer Technologien und Anwendungen für die Industrie 4.0, für die Arbeitswelt von Morgen sowie die Digitalisierung der Wirtschaft“, erklärt Steffen Masik.
Das klingt sehr theoretisch. Der Diplom-Ingenieur hat aber sofort eine Menge praktischer Beispiele parat
„Es ist möglich, dass im Elbedome wichtige oder lebensgefährliche Arbeitsabläufe trainiert und gelernt werden, ohne dass eine ganze Fabrik abgeschaltet werden muss.“ Zum Beispiel Reparaturen an Hochleistungstransformatoren. Erfolgreich wurde auch schon das Training von Piloten und technischem Personal von Flugzeugen durchgeführt. Oder: „Der Architekt unternimmt mit seinem Kunden eine virtuelle Reise durch sein neues Haus. Änderungen und Wünsche können sofort aus der virtuellen Welt transportiert und am realen Zeichenbrett auf Machbarkeit geprüft und eingeplant werden.“
Nicht zu vergessen: „Im Elbedome werden zum Beispiel Arbeitsplätze als Hologramm ins reale Büro, das auf den Panoramaflächen projiziert wird, aufgestellt und optimiert.“
Eine unendliche Liste. Eine Liste, die auch das Leben jedes Einzelnen in vielen Bereichen verändern kann.
Steffen Masik: „Der alte Elbedome war mehr ein besseres 3D-Panorama-Kino mit Laser-Technik. Mit dem Update sind wir nun einen entscheidenden Schritt weiter. Aus der virtuellen Realität wird eine gemischte Realität. Und wir sind mittendrin.“
Optimierung von Arbeitsplätzen und -abläufen. Aufbruch in die neue, digitale Welt. Für alle diese Aufgaben ist der Elbedome mitten in Sachsen-Anhalt hervorragend gerüstet. Im europäischen Forschungsprojekt „PortForward“ sollen aktuell im Mixed-Reality-Labor des Elbedomes unter anderem Methoden entwickelt und getestet werden, die den Informationsfluss in Virtual-Reality-Szenarien besser darstellen und damit Entscheidungen im Betrieb von Großinfrastrukturen unterstützen. Das Team arbeitet intensiv daran, dass die Vermischung von virtueller und tatsächlicher Realität qualitativ immer besser wird.
Dazu gehört auch ein Technikum, das in Planung ist. Hier soll zum Beispiel eine kleine Fabrik entstehen, die mit dem Elbedome verknüpft wird, um den realen Fortschritt noch besser mit der virtuellen Welt zu verbinden. Mit welchem Ziel? Steffen Masik: „Eines Tages wird es sicher möglich sein, in einer virtuellen Welt, Gegenstände oder Dinge, wie Blumen, Wände oder Tische wirklich anfassen und fühlen zu können.“
Noch ist das Zukunftsmusik – heute muss auch im Elbedome aufgepasst werden, dass bei dem Übergang aus der virtuellen Welt in die Realität nicht über einen realen Hocker gestolpert wird. Vielen Besuchern ist das schon passiert....
https://www.iff.fraunhofer.de/de/ueber-fraunhofer-iff/labore/elbe-dom.html